Adorno über Paranoia

04.04.06

 

Adorno bzgl. Paranoia

 

In den „Minima Moralia“ hat Adorno eine geniale Idee bzgl. Paranoia. (Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Ffm 1980, ursprünglich 1951. Darin das Kapitel 103 “Heideknabe”, S.213-215).

 

    Gewalt, auf der Zivilisation basiert, meint Verfolgung aller durch alle, und der Verfolgungswahnsinnige bringt sich in Nachteil bloß, indem er dem Nächsten zuschiebt, was vom Ganzen angerichtet wird, im hilflosen Versuch, die Inkommensurabilität kommensurabel zu machen. (S.214)

 

An dieser Formulierung sind mehrere Sachen interessant. Ich versuche sie in meine Denkweise zu übersetzen.

 

  • Adorno sieht die Gesellschaft als Ganzheit, als System.
  • Der Einzelne kann das, was die Gesellschaft anrichtet, nicht sich psychologisch einfühlend, sozusagen empathisch verständlich machen, wenn er realistisch denken will, da es sich sozusagen um Gesellschaftsphysik (Soziologie) handelt, wenn er gesellschaftliche Phänomene aufklären will.
  • Falls er dies dennoch versucht, so würde das bedeuten, daß er sich die Inkommensurabilität (die Unvergleichbarkeit) kommensurabel machen würde.
  • Falls der Einzelne in diffuse Ängste gerät, sein Urvertrauen verliert, wiewohl dies dem gesellschaftlichen System zu danken ist, das den Einzelnen in vielen Fällen ziemlich rücksichtslos behandelt, so kann er, wenn er den gesellschaftlichen Zusammenhang nicht erkennt, sein Mißtrauen dem Nächsten zuschieben, um dafür einen Ausweg zu finden.

 

Also zum Beispiel in den 20iger Jahren des 20.Jhdts. in Deutschland einen antisemitischen Wahn zu kultivieren, falls den Einzelnen die eigentlichen gesellschaftlichen Zusammenhänge der Kriegsentstehung (1.Weltkrieg) und der modernen kapitalistisch-militaristischen Entwicklung nicht interessieren, die ihn selber massiv betreffen, an denen er selber aktiv beteiligt ist, die jedoch auch Ängste und Mißtrauen schüren nach der Niederlage, nach der Revolution und schließlich der Inflation, der späteren Massenarbeitslosigkeit etc. Vermutlich wurde im Krieg traumatischerweise ziemlich restlos, und durch die autoritäre Erziehung sowieso schon ansatzweise das Urvertrauen lahmgelegt. (Vgl. zur Entwicklung des Antisemitismus nach dem 1.Weltkrieg in Deutschland dokumentarisch die antisemitische “Politisch-Anthropologische Monatsschrift” Anfang der 20er Jahre, die ich vermutlich auf meiner Website leider nicht faksimile-mäßig veröffentlichen darf ohne mich wg. Begünstigung von Antisemitismus strafbar zu machen).

 

    Er verbrennt, weil er unmittelbar, gleichsam mit bloßen Händen, den objektiven Wahn greifen möchte, dem er gleicht, während das Absurde selber gerade in der vollendeten Mittelbarkeit besteht. (S.214 f.)

 

Der rein in personalistischen Schuldbegriffen denkende Einzelne (beispielsweise eine selbsgerechter Jurist) versucht zwanghaft unangenehme gesellschaftliche Sachverhalte als unmittelbare zu begreifen, z.B. als unmittelbar böse Handlung einzelner bösartiger Menschen (oder einer bösartigen Rasse, Klasse, Nation). In Wahrheit ist der unangenehme Sachverhalt, sofern er Ausdruck gesellschaftlichen Geschehens ist, auch wenn er notwendigerweise personalisiert (in Form einer Charaktermaske der Gesellschaft) vorgetragen wird, kein unmittelbarer (rein persönlicher) sondern ein mittelbarer, d.h. gesellschaftlich bedingter. Er hat lediglich eine persönliche Färbung und Variationsbreite. Rein persönlich mag der deutsche Soldat gegen seinen englischen Gegner gar nichts haben, auch ist er vielleicht ansonsten ein anständiger Mensch, trotzdem schießt er auf ihn. Als Soldat verkörpert er die militärische Charaktermaske einer Nation, die im Krieg steht mit einer anderen Nation. Als Soldat ist er qua Rolle zwangsläufig Mörder.

 

Wenn nun jemand aufgrund negativ erlebter gesellschaftlicher Gegebenheiten, die er als gesellschaftliche in seiner personalistischen Verblendung nicht erkennt, in ein Trauma von Angst und Mißtrauen gerät, so kann es passieren, daß er zum paranoiden Verfolgungswahnsinnigen wird, der personalistisch nach Schuldigen seiner Misere sucht.

 

Adorno:

 

    Er fällt als Opfer für den Fortbestand des Verblendungs-zusammenhangs. Noch die schlimmste und unsinnigste Vorstellung von Ereignissen, die wildeste Projektion enthält die bewußtlose Anstrengung des Bewußtseins, das tödliche Gesetz zu erkennen, kraft dessen die Gesellschaft ihr Leben perpetuiert. (S.215)

 

Ich weiß nicht, ob Adorno die Utopie eines gesellschaftsfreien (nicht-systemischen) menschlichen Zustands hat. Meiner Ansicht nach wird es immer die Dialektik zwischen Ganzheit und Teil geben. Es ist nur die Frage, ob jene Dialektik dem Einzelnen förderlich ist oder aber ihm Gewalt und Unrecht antut. Aber in jedem Fall kann man Adornos Satz so interpretieren, daß die Gesellschaft, so wie sie jetzt ist, ihr Leben zu perpetuieren versucht (das macht eigentlich jede Gesellschaft). Und so wie sie jetzt ist, steht sie jedoch unter einem „tödlichen Gesetz“, um ihre Perpetuierung zu bewerkstelligen. Man muß hier berücksichtigen, daß Adorno diese Sätze im amerikanischen Exil in der Zeit 1946-47 schrieb unter dem grauenhaften Wissen von Auschwitz. Des öfteren klingen seine kleinen Texte der Minima Moralia danach, als ob er im „Faschismus“ das allgemeinere Schicksal der zu Ende kommenden kapitalistischen Zivilisation sehen würde.

 

Aber auch wenn die Gesellschaft nicht unter diesem „tödlichen Gesetz“ steht, so könnte man meines Ermessens diese vermutlich überzogene Formulierung jedoch immer noch realistisch übersetzen in eine weniger überzogene, etwa „das lebensfeindliche Gesetz, kraft dessen die gegenwärtige Gesellschaft ihre Existenzweise perpetuiert“.

 

Interessant ist jetzt noch Adornos auf die Spitze-Treiben  seines Geniestreiches:

 

    Kommunikationspunkte sind die schlagenden Bestätigungen der Verfolgungsphantasien, die den Erkrankten damit äffen, daß er recht hat, und um so tiefer nur ihn hinabstoßen. Die Oberfläche des Daseins schließt sogleich sich wieder und beweist ihm, so schlimm sei es gar nicht und er verrückt. (S.215)

 

Wenn also beispielsweise ein männlicher Eifersuchtsparanoiker tatsächlich erlebt, daß seine Geliebte Interesse an anderen Männern hat, so hat er hier nun „die schlagenden Bestätigungen“ seiner paranoiden Phantasien, die aufgrund eines Traumas (üblicherweise auch wieder gesellschaftlich bedingt), das ihm das Urvertrauen lahmlegte, aus Angst und Mißtrauen quasi zwanghaft erwachsen sind. Da aber nun seine Geliebte (in der Regel) gar nicht so schlimm ist, sie liebt ihn ja noch, und verzichtet deswegen (weitgehend) auf ihre sonstigen Möglichkeiten, so ist der Eifersuchtsparanoiker auf der Oberfläche des Geschehens widerlegt. Was der Beweis dafür ist, daß er verrückt ist. Doch in Wahrheit hat er auf bewußtlose Weise eine Ahnung von etwas, das ihm sein Mißtrauen im tiefsten Inneren doch noch rechtfertigt und weiterhin nährt. Und was es in der Tat objektiv rechtfertigt, das ist die Tatsache, daß auch hinter der Geschlechter-Attraktion massive gesellschaftliche Kräfte des Tauschwertverhältnisses am Wirken sind. Diese Kräfte gefährden in praxi oft genug die sexuellen Beziehungen und das Vertrauen, das man in sie investiert hat – vor allem dann, wenn man selber bewußtloserweise aktiv an der Konstitution dieser Kräfte beteiligt ist (d.h. selber gesellschaftlicher Agent dieser Kräfte ist – d.i. Charaktermaske).

 

[Roman: Ildiko] [1. Eröffnung d. Geschichte] [2. Liebe] [3. Eifersucht] [4. Qual & Leiden] [5. Lösung] [6. unser Kind] [THEORIE-TEIL] [2021] [2018] [2017] [2012] [2011] [2010] [2009] [2006] [2004] [Links-Kabinett]